Zwischen-Gas

Diesel aus Abfallprodukten: HVO 100 frei verkäuflich ab 2024? Der Treibstoff kann anders als fossiler Diesel den CO2-Ausstoss um bis zu 90% reduzieren. Und: Anders auch als E-Fuels lässt er sich mit überschaubaren Mengen ausschliesslich regenerativer Elektroenergie herstellen.

In den geräumigen Hof fährt ein blitzblank schwarz glänzender Tanklastzug nach dem anderen ein. Roland Weissert, Chef eines mittelständischen Kraftstoffhandels im württembergischen Öhringen, schwingt sich in eine Fahrerkabine und gibt mehrmals kräftig Gas. Dem Auspuff entströmt – „nichts“ als heisse Luft. Verblüffend. Kein Geruch und schon gar kein Russ. Der Koloss hat HVO 100 im Tank. Das kann den CO2-Ausstoss um bis zu 90% drücken.

Im Flüssigzustand ist „Hydrotreated Vegetable Oil“ wasserhell, klar und verströmt kaum wahrnehmbar einen Hauch von Waschbenzin.
Das Besondere: der Diesel wird zu 100% aus Abfällen gewonnen.
Aus Fettabscheidern, Resten der Lebensmittelindustrie, der Land- und Forstwirtschaft…
Forscher tüfteln mit Hochdruck daran, was sonst noch an kohlenstoffhaltigen Reststoffen für HVO 100 in Frage kommt: Klärschlamm z.B. und Algen, fester Hausmüll, der bisher nicht recycelbar ist, Reste aus Papier- und Zellstoffproduktion…
Dreck? „Praktisch alle fetthaltigen Rest- und Abfallstoffe bis hin zu Gülle sind einsetzbar“, sagt Norman Wendt von en2x, dem Wirtschaftsverband Fuels und Energie in Berlin. Ein sehr aufwändiger Prozess, und
sehr raffiniert auch im Wortsinn. Da geht aber noch mehr.

Erneuerbar und nachhaltig: HVO 100

Das Potenzial an Rohstoffen liegt bei hunderten Millionen Tonnen, heisst es bei Neste im finnischen Porvoo. Der Raffineriekonzern führt weltweit bei erneuerbarem Diesel.
„Interessant auch als regeneratives Flugbenzin und als Schiffsdiesel,“ sagt Händler Weissert.
Eine gigantische Herausforderung für Forschung und Entwicklung. In Europa hat Neste zehn Jahre Vorsprung und damit die Nase vorn.

Konflikt zwischen Tank-Teller-Trog?

HVO 100 bedeutet: zu 100% aus Abfallstoffen.
Jede Abweichung, also z.B. HVO 80, heisst: Es sind Beimischungen drin, z.B. 20% fossile Rohstoffe, also herkömmlicher Diesel.

Essbare Pflanzen werden nicht „verdieselt“.
HVO 100 ist kein Biodiesel.
Eigens angebaute Monokulturen für Sprit in Konkurrenz zu Nahrungsmitteln wie Raps, Mais, oder gar Palmöl wandern also nicht in die Raffinerien.
Goldstandard ist, diesen sog. paraffinischen Diesel zu 100 % mit regenerativer Elektrizität zu produzieren. Im Neste-Hauptsitz in Porvoo ist es schon so weit. Und bis 2030 sollen auch alle ausländischen Niederlassungen klimaneutral arbeiten.

Dass HVO 100 helfen kann, den CO2-Ausstoß zu verringern, ist unstrittig. Warum aber „bis zu“ 90%?
Fachleute berechnen dabei akribisch die Treibhausgas-Bilanz aus den unterschiedlichen Qualitäten eingesetzter Abfallstoffe, der Herstellung und der Transportwege. Und natürlich den Ausstoss beim Fahren.

Städte kämpfen mit überhöhten Schadstoffwerten. Vor allem ältere Dieselfahrzeuge ohne moderne Abgasreinigung schädigen mit HVO 100 im Tank Menschen und Umwelt erheblich weniger durch Gestank und Partikel, auch auf manchen Bahnhöfen: Noch immer fahren in Deutschland 3000 Loks mit Dieselantrieb.

Unsere Loks gewöhnen sich das Russen ab

Es wird noch sehr lange dauern, bis in Deutschland alle Bahnen elektrifiziert sind. Erst einmal ersetzt DB-Regio in ihren Loks Zug um Zug russigen Diesel durch HVO 100. Nach eigenen Angaben bislang in 1000 Loks. Kein Gestank also mehr durch Lüftungsgasanlagen im Zug. Nutzniessser sind Umwelt, Passagiere und Besatzungen, bisher auf sieben Strecken, von der Prignitzbahn im Norden bis zur Mittelfrankenbahn im Süden. Und: Alle 800 Loks im Güterverkehr tanken HVO 100, so die DB.

Sylt-Shuttle: 7500 t weniger CO2 jährlich mit HVO 100 Lok-Diesel

HVO 100 in Europas Tanks

In den Niederlanden, in Skandinavien, in Italien z.B. ist HVO 100 verfügbar.
Autos, Busse, Loks, Lastwagen, Nutzfahrzeuge wie Baumaschinen, Feuerwehren, Landmaschinen, alte Kisten oder neueste Modelle – nutzen den Stoff seit Jahren problemlos.
Zugelassen ist er auch bei uns schon lange. Von sämtlichen Herstellern sowieso. Er erfüllt die technische Norm DIN EN 15940.

Spätzünder

Als einziges Land in Europa aber hat der deutsche Gesetzgeber HVO bisher nur als Dieselbeimischung und für Verkauf an nicht öffentlichen Tankstellen erlaubt, z.B. für Firmenfuhrparks. Begründung: Mit geringfügig weniger Energiegehalt je Liter erfüllt er als „Reinkraftstoff“, also ohne fossile Beimischungen, hierzulande bisher die gesetzlichen Vorgaben für Diesel nicht. Im restlichen Europa sieht man darin hingegen keinerlei Qualitätseinbussen.

Im Gegenteil. Für den Sprit muss nichts am Auto umgestellt werden. Leserecho in Online-Automagazinen: “Motor läuft leiser“, „keine verstopften Filter mehr“, „Kaltstart ohne Nageln“, “keine Dieselpest…“
Das spart Wartungskosten. Auch Sportbootfahrer haben HVO 100 für sich entdeckt: „nicht fischgefährlich.“
Die Stadt Öhringen betankt schon seit 2016 damit bewusst Feuerwehr, Kehrmaschinen und Räumfahrzeuge für den Winterdienst: Die Selbstzünder setzen auch nach langen Fahrpausen und keinen Sulz an und sind immer sofort startklar, selbst bei Kälte.

Nutzfahrzeuge mit HVO 100: weniger Gewicht, weniger
Bodenverdichtung als mit Batterien
Foto: Autorevue.at

Voraussichtlich im Frühjahr 2024 soll HVO 100 nach einer Gesetzesänderung auch in Deutschland an Tankstellen frei verfügbar sein, schätzt Norman Wendt vom Lobbyverband en2x.

Wo ist der Haken?

So lange der Abfallrohstoff knapp ist, bleibt auch HVO 100 keine Massenware. Und was knapp ist, ist teuer. So wird der nachhaltige Sprit ca. 20 bis 30 ct. pro Liter mehr kosten als herkömmlicher Diesel.
Es sei denn, man subventioniert ihn wie die Italiener. Da kostet der Liter ca. 3 ct. weniger als fossiler Kraftstoff:
Das Land kann damit ohne grossen Aufwand seine CO2-Bilanz drücken – wie sie die EU ja für alle Mitgliedsländer vorschreibt.

Deutsche Umweltpolitiker befürchten aber z.T wohl auch, dass HVO 100-betriebene Fahrzeuge dem Markt für Elektroautos Konkurrenz machen könnten, so Norman Wendt.
Heißt: Dass der CO2-ärmere Sprit Diesel-Autos womöglich länger in Betrieb hält als nötig, sagt Reinhard Herbener vom Umweltbundesamt (UBA) in Dessau. „Alles was elektrifizierbar ist, sollte auch elektrifiziert werden.“ Außerdem sei es natürlich energetisch effizienter, Motoren direkt elektrisch anzutreiben als raffinierte HVO 100-Kraftstoffe im Verbrenner zu nutzen.

Mehr und mehr Elektroautos auf unseren Strassen – als Gebrauchtwagen werden aber die Selbstzünder noch lange weiter rollen.
Im Übrigen: Für Bagger, Erntemaschinen, Schwertransporter, in Baumaschinen, für Binnenschiffe… Nutzfahrzeuge aller Art mit ihren konkurrenzlos bullig-starken Motoren bleibt Diesel unersetzlich.
„Zusammen mit modernsten Abgasfiltern ist der Stoff unschlagbar,“ so Händler Weissert. Bei Unfällen und Bränden verpesten laufende Motoren von Feuerwehren und anderem Einsatzgerät mit dem CO2-armen Sprit nicht stundenlang die Luft.

Und der Profit?

Ganz pragmatisch wollen so z.B. Skandinavien und Kalifornien ab 2030 Diesel nur noch als HVO 100 zulassen – um jede derzeit verfügbare Technik zu nutzen, Treibhausgase zu verringern.
Trotz des höheren Preises setzt die Branche auf gute Geschäfte mit dem Sprit aus Abfällen.
Allen bisherigen Restriktionen zum Trotz: Schon heute rollen bei Roland Weissert in Öhringen täglich drei von zwanzig Tanklastern ausschließlich mit HVO 100 vom Hof. Umsatzanteil: 10 %.

 

 

 

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