Wahlwarnung!

Herr Sonneborn bleibt in Brüssel! Warum also bei der Europawahl am 9. Juni noch für ihn stimmen? Antwort: Weil ein Satiriker – mindestens! – im drittgrössten Parlament der Welt nach dem Volkskongress in China und dem Deutschen Bundestag unbedingt sein muss.

„Wenn ich in der Öffentlichkeit gefragt werde, was ich beruflich mache, behaupte ich immer, dass ich gerade aus dem Gefängnis komme und mich noch orientiere. Es ist mir ausgesprochen unangenehm zuzugeben, dass ich dem EU-Parlament angehöre.“

Er ist aber drin. 2019 gewählt mit 2,4% der Stimmen aus Deutschland.
Wahlkampfslogan: „Besser als nix.!“ Und Martin Sonneborn macht auch gleich klar, dass er sich mit seinem neuen Buch*) diesen rund 900 000 Menschen verpflichtet fühlt.

Eigentlich sollten in Brüssel die Besten aus 450 Millionen Bürgern sitzen, in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament. Dass sie das nicht tun, dafür bin ich ein sehr gutes Beispiel. Und nicht einmal das beste.
Vorbestrafte Staatspräsidenten, korrupte Kommissare und Abgeordnete mit Handtaschen voller Bargeld, Milliardenverträge, die per SMS ausgehandelt werden und eine Politik, die weniger für 450 Millionen als für 450 Millionäre gemacht wird .“

Der Hofnarr, pardon: Parlaments-Stachel im Fleisch der Mächtigen pocht dabei auf seine Immunität als Abgeordneter, als Mitglied des Europäischen Parlaments (MEP). Da kriegen dann viele Politgrössen ihr Fett weg.

Aber der Reihe nach: Es gibt auch viel “Skurriles und Lustiges zu berichten“. Von den ausgefeilten Satire-Showstückchen, die der Einzelkämpfer Sonneborn aus der letzten Reihe ins Parlament abfeuert z.B.
Er freut sich, dass „er nicht mehr der unseriöseste Vertreter der europäischen Demokratie“ ist, um sich dann u.a. immer wieder auf die mächtigste Frau in der EU einzuschiessen, auf Ursula von der Leyen. Wegen ihres Paktes zur eigenen Kür bei der Präsidentschaftswahl 2019 mit der „illiberalen polnischen PISS-Partei und dem Möchtegernfaschisten Orbán“, so sieht er das.

Er schreibe seine „Reden immer bis zur letzten Minute“, bekennt der Autor. Das macht es den Simultandolmetschern nicht leichter. Aber er will auch nicht, dass seine Attacken vorher ins Präsidium gelangen…

Apropos Dolmetscherinnen: Die geben sicher ihr Bestes, aber an späterer Stelle des Buches erfahren wir, dass das babylonische Sprachgewirr der EU bei Reden zu mindestens so vielen, höchst unterschiedlichen, eher entschärften Versionen aus den Dolmetscherkabinen kommt, wie die EU Sprachen hat. Und so wundert sich der „Politclown“ (taz) Sonneborn nicht mehr, wenn eingeplante Lacher oder erhoffte Reaktionen der Entrüstung im Plenum nicht immer so richtig zünden.

Auf Stimmenfang

Die Kapitel über den PARTEI-Wahlkampf zur Europa-Wahl 2019 erfüllen in mehrfacher Hinsicht den Tatbestand der Schleichwerbung.
Zum einen wegen ihres Unterhaltungswertes, weil sie zum Lachen reizen, Werbung für das Buch also.

Zum anderen, weil die Touren der PARTEI durchs Land so völlig anders, so originell und abseits der üblichen Polit-Präsentationen rüberkommen, als Comedy-Shows eben, dass sie offenbar schon allein deshalb Publikum ziehen und Sympathien bzw. Stimmen erfolgreich werben. Vor allem bei jungen Leuten, die sich damit politisieren lassen.

Unter den Erstwählern wurde die PARTEI bei der Europa-Wahl 2019 drittstärkste Kraft nach CDU und Grünen. In Berlin mit 4,8% der Stimmen sogar mit etwas mehr als die FDP (4,7%), auch so eine Jungmänner-Wähler-Partei. Es heisst ja, die PARTEI zöge vor allem beim jugendlichen männlichen Geschlecht.

Da könnte etwas dran sein, liest man die vielen im Buch zitierten Kommentare zu Sonneborn-Posts im Netz.
Wenn der MEP immer wieder den nachsichtigen Umgang der Kommissionspräsidentin von der Leyen mit Rechtsstaatsverstössen vor allem von Ungarn aufs Korn nimmt:

„Das ist Wahlbetrug! Als Satire starten und dann fundierte Kommentare liefern – was kommt als nächstes? Politik ?“ (Sherz Berlin)
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht länger auf Facebook folgen. Das ist zu deprimierend.(Zwinker Smiley). Daniel Schmidt“

Was bei Redaktionsschluss des Buches noch nicht klar war: Das EU-Parlament wird möglicherweise Klage gegen die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) einreichen: War es rechtens, 10 Mrd. Euro eingefrorener Gelder frei zu geben trotz Zweifeln an der richterlichen Unabhängigkeit Ungarns?

Schleichwerbung sind die Wahlkampf-Anekdoten schliesslich, weil sie neugierig machen könnten auf den Europawahlkampf der PARTEI 2024: Geht Humor in schwierigen Zeiten wie diesen? Das dürfte erneut Publikum anlocken.

Immerhin, so viel Ernst hat den Autor im Lauf seiner EU-Präsenz seit 2014 doch gepackt, dass er nicht länger bei Abstimmungen einfach zwischen „ja“ und „nein“ abwechselt.
Begründung: Lange Zeit unter Parlamentspräsident „Martin Chulz“, habe seiner Meinung nach sowieso immer nur die satte konservative Mehrheit aus EVP und S&D „alles in Grund und Boden (gestimmt), was lediglich die Interessen von 500 Millionen betraf und nicht die Belange der grossen Konzerne und Finanzdienstleister.“

Einzelkämpfer

Inzwischen sei die Sachlage komplizierter und er gebe seine Stimme Linken, Grünen und Sozialdemokraten, wenn die ihn drum bäten und die Sachlage es erlaube.
Und er genehmige es sich auch mal, „intuitiv“ zu votieren, was heisst, sich nicht erst durch Aktenberge zu wühlen und schlau zu machen, sondern zu spicken, wie andere Abgeordnete seines Vertrauens aus dem linken Block stimmen und sich ihnen anzuschliessen…

Im übrigen bewahre er seine Unabhängigkeit – obwohl er „bereit stehe in jede beliebige Fraktion einzutreten (für eine Million netto).“
Denn natürlich weiss der Mann auch die die Annehmlichkeiten von Tagesgeldern für den monatlichen Reisezirkus des Parlaments von Brüssel nach Strassburg zu schätzen: „Ich darf das nicht kritisieren, (….)“
(denn das ergibt ) „eine derartige Menge Geld, dass ich davon meinen 25 Jahre alten Audi A8 am Leben halten kann.“ Ganz zu schweigen von den sehr auskömmlichen Abgeordneten-Diäten und Privilegien wie etwa einer Bahncard 100 gratis.

Realsatire

„Au weia, der slowenische Ministerpräsident Janez Jansa (vorbestraft) hat gerade die Ratspräsidentschaft in der EU übernommen.“

Ein Mann, der nach den Ausführungen des Autors die „Aushöhlung von Demoktratie, Rechtsstaat & bürgerliche(n) Freiheiten“ (betrieben habe). „In strengem Wechsel mit Nadelstich und Vorschlaghammer – gegen Presse, Justiz und Zivilgesellschaft.“
Nicht zuletzt über Soziale Medien (Spitzname „Marschall Twito“).

Regierungsparteien im Balkanraum gehören in aller Regel erstens dem von der deutschen CDU dominierten & gelenkten EVP-Bündnis an, wodurch sie vordergründig als „christlich-konservativ“ legitimiert und hintergründig mit allen entscheidenden Entscheidungsträgern aufs Prächtigste vernetzt sind.“

Aufgabe der Parlamentarier ist es auch, zu jeder neuen Legislaturperiode die EU-Kommissions-Kandidatinnen und -Kandidaten zu „grillen“, ein bisschen jedenfalls, bzw. einfach durchzuwinken, so der Autor. Etwa den heutigen Aussenkommissar Josep Borrell (Sozialdemokrat), vorbestraft wegen Insiderhandels an der spanischen Börse. Nicht zuletzt deshalb haben ihn manche EU-Parlamentarier abgelehnt.
Nur bei zu offensichtlichen Eignungsmängeln schafften sie es, auch mal ein oder zwei Bewerber zurückzuweisen.

Leicht grotesk gerät, wie MEP Martin Sonneborn die konservative kroatische Bewerberin Dubravka Suica befragt.
Für das neu zu schaffende EU-Kommissions-Ressort „Demografie und Demokratie“ , eine sich inhaltlich nicht auf Anhieb erschliessende Kombination“, (Sonneborn), ausserdem als Vizepräsidentin der Europäischen Kommission.
Sonneborn – nur eine Minute Redezeit hat er – will wissen, wie Suica als EU-Parlaments-Abgeordnete für Kroatien sowie in verschiedenen öffentlichen Ämtern in ihrer Heimat es innerhalb von 20 Jahren von der armen Lehrerin auf ein geschätztes Vermögen von fünf Millionen Euro gebracht habe.

„Würden Sie Ihr Patentrezept mit uns Europäern teilen?“
Leider nein.

Wütende Hammerschläge des Ausschussvorsitzenden Antonio Tajani, Ex- Pressesprecher von Silvio Berlusconi. Mitten im Satz schaltet er dem Abgeordneten das Microfon ab. Intervention der Kandidatin. Sonneborn darf diesen Satz dann doch noch zu Ende bringen.
Die heutige „Kommissarin neuer Schwung für die europäische Demokratie und Demografie“ sagt dann auf die Frage hin einen Fünfjahresplan gegen Armut in Europa zu.
Folgt Beschwerdebrief des MEP über Tajani an den Parlamentspräsidenten David Sassoli.

Massenöffentlichkeit

Das Buch zeigt auch, dass traditionelle Medien gern mal auf Anekdotisches des MEP zugreifen, schmückende Farbtupfer im eher grauen Polit-Alltag.

„In Brüssel wurde ein ungarischer Abgeordneter bei einer Orgie mit nackten Männern aufgegriffen. Das Problem daran: Es herrscht Corona-Lockdown – und der Politiker gilt als nationalkonservativer Vordenker.“ (SPIEGEL)

Józef Szája (EvP), der Ertappte, gilt zudem als einer der engsten Vertrauten von Victor Orbán. Nackt und mit Drogen im Rucksack hatte er vergeblich versucht, der Polizei zu entfliehen.

Durchaus eigenwillig eine Aktion der PARTEI, Spenden zu rekrutieren:
100-Euroscheine für jeweils 105 Euro zu verkaufen.

Das Bundesverwaltungsgericht wies die Klage der Bundesrepublik Deutschland (gegen die PARTEI) zurück.
Da die Parteienfinanzierung an die Einnahmen der Parteien gebunden ist, konnte sie (…) über die zusätzlichen Einnahmen von 204 000 Euro ihre Staatszuschüsse um mehr als 80 000 Euro erhöhen.“ (FAZ)
Weiterer Hinweis der FAZ: 2015 hatte die AfD mit ererbtem Gold ihre Staatszuschüsse um rund zwei Millionen Euro erhöhen können.

Der Berufssatiriker freut sich aber vor allem, wenn Traditions-Medien auch seine ernsteren Anliegen aufgreifen.
Z.B. der britische Morning Star, dass sich Sonneborn unermüdlich für die Freilassung des australischen Whistleblowers Julian Assange einsetzt.
Oder seine Kritik, dass die geheimen Absprachen zwischen Ursula von der Leyen und dem Pfizer-Chef Albert Bourla betreffend Milliarden-EU-Zahlungen für Covid-19-Impfstoffe unzulässig gewesen seien.
Taz, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung u.a. greifen auf den Text von seiner Homepage zu.

Dazu eine Minute Redezeit des MEP vor 40 von 705 Abgeordneten im EU-Parlament:
„Eine Kurznachricht aus dem EU-Parlament an Frau von der ähem Leyen. Wussten Sie, dass wegen Ihrer gelöschten Pfizer-SMS mittlerweile nicht nur Ihre Kommission verklagt wird – von der New York Times – sondern auch Sie persönlich? (…) Wegen ‚Amtsanmassung und Titelmissbrauch‘, ‚Vernichtung öffentlicher Dokumente‘ und ‚Korruption‘. (…) Ich möchte Ihre Handy-Nummer!
Mit niemandem lassen sich so einfach unseriöse Geschäfte machen wie mit Ihnen. Vielen Dank.“

Wie die deutschen Abgeordneten im EU-Parlament über die geforderte Offenlegung der SMS-Dokumente zu dieser Affäre abgestimmt haben (Ablehnung), dokumentierte Sonneborn mit Namensliste im Netz. Ein Teil der Strategie, mehr Öffentlichkeit durch Präsenz in Online-Massenmedien zu schaffen.
Dazu gehört auch, nahezu sämtliche Sozialen Medien zu bespielen. Im Buch zitiert er Zuspruch für seine Reden und Posts (bis zu 1,7 Mio. Klicks) und Shitstorms gegen ihn. Sonneborn nutzt ein kleines Parlaments-TV-Studio, das allen Abgeordneten in Brüssel zur Verfügung steht. Auf seinem eigenen YouTube-Kanal hat er über 280 000 Abonnenten.

Stoff satt fürs Geld

Irgendwann stellen sich vor lauter Sottisen, Boshaftigkeiten und angesichts der Flut an Episoden und Infos Erschöpfungserscheinungen beim Lesen ein. Offenbar unvermeidlich bei Berichten aus fünf Jahren „Abenteuer(n)“ (Klappentext) in Brüssel und der unbändigen Schreiblust und Passion für Pointen des ehemaligen Titanic-Chefredakteurs auf 432 Seiten. Es lohnt sich, die Lektüre trotzdem durchzuhalten. Stoff zum Nachdenken, ob man/frau die Positionen des Autor nun ganz, gar nicht oder nur bedingt teilt, Satire schätzt oder eher auf mild-pfeffrige Comedy steht.

Vielleicht spendiert die PARTEI für das nächste Buch Herr Sonneborn kehrt zurück aus Brüssel aus ihrer gut gefüllten Parteikasse ja mal ein Personen- und Sachregister.

Oszillieren zwischen Spass und Ernst – schwierige Zeiten für den Autor.
Bleibt die Satire auf der Strecke?
Fragen Sie Herrn Sonneborn in Brüssel!
Seine Handynummer?
„Es ist die 7. Smiley“

*) Martin Sonneborn
Herr Sonneborn bleibt in Brüssel
Neue Abenteuer im Europaparlament
Köln 2024
(Kiepenheuer & Witsch)
432 S.
Paperback € 20,-

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