Wuselige Wunderwesen

Eine Spezies mit extrem variantenreichem Sexleben? Unsterbliche Kleinlebewesen? Der grösste Organismus auf unserem Planeten mit neun Quadratkilometern Ausdehnung?
Ein neuer Foto- und Textband bietet einzigartige Einblicke in die Welt unter unseren Füssen.

Das Buch zieht sofort mit grossartigen Fotos in Bann.
Erst dann geht’s weiter mit Text: „Astronomische Zahlen“, die dann auch gleich jeden halbwegs an der Natur interessierten Menschen weiter bei Stange halten bzw. bei der Lektüre halten müssten:

„…das Gewicht der Lebewesen, die einen Hektar durchwurzelten Bodens bewohnen, (summiert) sich auf 15 Tonnen. Das entspricht dem Gewicht von etwa 20 Kühen.“

Der Mikrokosmos unter unseren Füssen ist allerdings noch ähnlich unerforscht wie die Tiefsee.
Und nebenbei: Stille herrscht bei derart viel unterirdischer Vitalität natürlich keineswegs: „Es pocht, knistert, rauscht, hupt…“ hat eine Schweizer Forschungsgruppe mit Hochleistungsmikrofonen herausgefunden.

Was passiert da in naturbelassenem Boden, wenn abgestorbenes organisches Material wie Laub, Totholz, Nadeln, Kadaver, Kot… zersetzt wird? Wenn dadurch wiederum wertvolle Stoffe für unzählige Lebewesen frei gesetzt werden, z.B. diverse Sorten Humus?

Kein „kunstgewerblicher Flaschenöffner“, sondern eine Amöbe 2)

„Ein Heer fürs Leben“

Fotos wie abstrakte Gemälde zeigen die Schönheit der Bakterien. Unmöglich sie nach Art und Menge vollständig zu begreifen. Aber das Profi-Autorenduo Veronika Straass und Claus-Peter Lieckfeld steht für wissenschaftlich-korrekten und zugleich unterhaltsamen Klartext mit Tiefgang. Bei den Bakterien wie durch das ganze Buch hindurch, gelingt es ihnen, die hoch komplexe Materie anhand der spektakulären Fotos mit treffenden Vergleichen und Prisen von Humor zu erklären.

Z.B. die Symbiose von Pilzen, die als „freundliche Invasoren“ Pflanzenwurzeln umspinnen, ummanteln, damit helfen, das Gewächs zu ernähren – natürlich auch das eigene Überleben mit dessen Produkten aus der Photosynthese zu sichern. Geben und Nehmen als Prinzip des unterirdischen Biotops.

Was wir aus dem Wald als Pilze kennen, diesem Geschöpf aus der Tiefe, sind nur die oberirdischen Ausstülpungen zur Verteilung ihrer Sporen.
Das grösste Lebewesen der Erde? Der Dunkle Hallimasch erstreckt sich im Boden eines Naturschutzgebietes im US-Staat Oregon über neun Quadratkilometer. Geschätztes Alter: 2400 Jahre.

„Wer eine Begegnung mit dem Undenkbaren sucht, sollte sich bei den Schleimpilzen umschauen. Und womöglich können sie sogar denken. Ohne Gehirn.“

Blind, taub, dabei weder Pilz noch Pflanze noch Tier, sondern etwas ganz Eigenes:
Schleimpilze bewegen sich ohne Beine nicht nur nachweislich voran, etwa 1 cm pro Stunde. Sondern offenbar auch zielgerichtet. So suchte und fand „Physarum polycephalum“ den kürzesten Weg zu ausgelegten Haferködern, ergab ein Experiment japanischer Wissenschaftler.
Und schon vor Jahren beschrieb Thomas Willke in „Wissenschaft.de“, dass Physarum nicht nur zwei Geschlechter ausbildet, sondern 13. Jedes kann mit jedem Sex haben.

Schleimpilz Fruchtstände 3)

Pilze sind die wichtigsten Alleskönner der Erde, schreiben die Autoren. Und Schleimpilze entwickeln Glibber nur als Anfang. Ziel ist, andere Organismen wie z.B. Totholz, zu überfliessen und zu fressen, ohne Mundöffnung – leicht gruselig, manche Fotos.
Aber wie zum Ausgleich entfalten „satte“ Schleimpilze dann rasch Fruchtstände von betörender Schönheit.

Milben: Die „Unersättlichen“, die „Giftzwerge“ und „Kraftpakete“

Ein Stück der raffinierten Fototechnik enthüllt das Buch zunächst mit dem Fliegenschiss grossen Originalbild eines Spingschwanzes, einer Milbenart.
Und dann schritteweise mehrfach vergrössert im Rasterelektronen-Mikroskop (REM):

Bei 100:1 sind Kopf und Körper des Springschwanzes erkennbar, bei 1000:1 auch die stacheligen Haare in seinem bewegliches „Hemd “ aus feinsten symmetrischen Ausstülpungen, bei 100 000:1 dann die Details als reliefartiges Muster.
Die Spezialität der Biologin Nicole Ottawa und des Fotografen Oliver Meckes in Reutlingen sind aber die zusätzlichen, besonderen Lichteffekte. Die gelingen ihnen, indem sie reflektierende Elektronen an den Körpern der Winzlinge mit einem speziellen Detektor im REM zum Leuchten zu bringen.
Und so hat Meckes nichts dagegen, wenn man ihn als schwäbischen Tüftler bezeichnet. Sie seien im Übrigen die einzigen Profis weltweit, die von ihrer Kunst leben können.

Samtmilbe 4)

Apropos Milben: In ihrer ganzen Vielfalt stellt das Autorenteam sie in einem eigenen Kapitel vor. Sie mögen nicht schön sein und auch nicht beliebt, aber sie sind reinlich mit eigenen Klos unter der Erde. Ein Foto zeigt ordentlich gehäufte Kotkügelchen irgendwo im toten Winkel des unterirdischen Zerfalls- und Wiederauferstehungskosmos…

Keine Milbe, aber ebenfalls eine Art mit zahlreichen Varianten: Bei giftigen Hundertfüsslern – auch keine Foto-Schönheiten – darf es einen ein wenig schaudern. „Bisse“ mit ihren Giftklauen sollen schmerzhaft sein. Als Fressfeinde sorgen sie allerdings mit für ein natürliches Gleichgewicht unter den Mini-Beutetieren.

„Lieblingstiere“

Dazu gehört natürlich in Garten und Feld der Regenwurm. Borstig zeigen ihn die REM-Fotos, wer hätte das gedacht.
Gäbe es ein Ranking für wertvollste Halbfertigprodukte – was Regenwürmer im Team mit anderen Kleinlebewesen mit ihrer Mehrfachverdauung hervorbringen, wäre ganz vorne dabei, schreiben die Autoren.
In Nordamerika ist der glatte Kriecher dagegen als invasorische Art gefürchtet und deshalb nolens volens nur als Fischköder für Angler akzeptiert.

Unter den Forschenden für die kleinsten Erdlebewesen nehmen die Bärentierchen, „die Unsterblichen“, den Spitzenplatz ein, wohl wegen ihres drolligen Aussehens. Da komme auch Fachleuten leicht mal der nüchterne Analyseblick abhanden, geben die Verfasser zu. Diese sog. „Häutungstiere“ werden höchsten 1,5 mm gross und leben gerade mal einige Monate. Dass ein nur 1 mm grosses Lebewesen Eier legt, übersteigt leicht unser Fassungsvermögen.
Die REM-Fotos zeigen prachtvoll schöne Eier, die einen Juwelier zu Schmuck-Kreationen wie Ohrgehängen oder Perlen für Halsketten inspirieren könnten. Einerseits.

Andererseits zeigen Aufnahmen, wie die sog. Tardigraden – Fachterminus – zu Mini-Ledersäckchen und bis zur Unkenntlichkeit in sich zusammen fallen, wenn ihnen z.B. die für sie lebenswichtige Feuchtigkeit entzogen wird.
Eindrucksvoll beschreibt das Autorenduo die chemischen Prozesse im Organismus, bis das Bärentierchen in einen todesähnlichen Zustand übergeht, die sog. Kryptobiose.
Kein Sauerstoff mehr, kein Stoffwechsel: „Pökeln, dünsten, bestrahlen oder schockgefrieren, sie sind unkaputtbar.“

Bärentierchen Kryptobiose 5)

Heisst aber erstaunlicher Weise auch: Manche können nach Jahren, sogar Jahrzehnten wieder „auferstehen“, ihr normales Leben leben, Eier legen, aus denen gesunde Junge schlüpfen…

Wieso? Rätsel der Wissenschaft.


Alle Fotos 1-5: Copyright Eye of Science

Drecksarbeit
Der Mikrokosmos unter unseren Füssen
Fotos: Nicole Ottawa und Oliver Meckes
Texte: Veronika Straass und Claus-Peter Lieckfeld

Hamburg 2025
144 S.
€ 30,-

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