Simsalabim

Die Video-Kamera schwenkt kurz über die grünen, sonnenbeschienenen Hügel Stuttgarts. Schnitt.
Ein dunkelhaariger, leicht grau melierter Herr mittleren Alters mit Dreitagebart blickt freundlich in die Kamera und verkündet Revolutionäres:

„Wir reden über Digitalisierung, d.h. wir reden darüber, dass sich Dinge in unserer Umwelt ständig verändern müssen. Digitalisierung kommt hier nicht hinterher und leistet auch nicht den Beitrag, den wir sehen, und das wollten wir ändern.“

Alexander von Klein ist einer der fünf Gründer und Geschäftsführer von ASCon Systems GmbH.
Ihn und die Kollegen hat genervt, immer wieder zu sehen, wie mühsam es ist, wie lange es dauert und wie umständlich es ist, wenn Industrieunternehmen in ihrer Fertigung Abläufe optimieren wollen. Deshalb hat das Quintett 2017 eine Software entwickelt, die industrielle Prozesse in bisher einzigartiger Weise vereinfachen und beschleunigen soll. Für kleine Mittelständler, für Zulieferer, für Logistiker mit veralteter Software oder gar Zettelwirtschaft ebenso wie für global aktive Grossunternehmen.

Vier der fünf Geschäftsführer haben erst Jahre lang Unternehmen beraten und später gemeinsam eine eigene Software-Firma gegründet, erzählt Mathias Stach, der fünfte Gründer im Quintett. Er selbst hat eine internationale Karriere als Top-Manager bei VW hinter sich.

Gründer: Raimund Menges (hinten), Uwe Rettich, Mathias Stach, Alexander von Klein, Kilian Grefen (v.l.)

 „Das Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir im Prinzip jeglichen Prozess, den Sie sich vorstellen können, von der Ampelsteuerung bis zur Produktion virtualisieren können.
D.h. wir können relativ schnell digitalisieren ohne individuell programmieren zu müssen, sondern auf einer konfigurativen Ebene und das in einer hohen Geschwindigkeit“ , sagt Alexander von Klein.

Heisst: Kunden können die meist umfangreichen und vielfältigen eigenen Datensätze aus diversen Quellen für ihre Produktion in die ASCon Sytems-Software eingeben.
Egal ob Autos, Maschinen, Flugzeuge, Kühlschränke oder Lebensmittel hergestellt werden:
Die Prozesse werden am Bildschirm sichtbar gemacht, z.B. wenn Maschinenbauer eine Fertigungsstrasse in der Montage umbauen wollen.
Planung, Steuerung, Kontrollen – ASCon bietet dafür einen sog. „Digitalen Zwilling“, eine funktionale und optische Brücke zwischen der physischen Fertigung und ihrem digitalen Abbild.
Komplexe Produktionsabläufe lassen sich exakt in einem einzigen Modell sichtbar machen „und die eingehenden Signale werden so schnell verarbeitet, dass die Steuerung der Fertigung damit möglich wird.“ Und zwar in Echtzeit, sagt Mathias Stach.

Sie haben weltweit Patente dafür angemeldet. Auch grosse Mitbewerber könnten bislang nichts Vergleichbares bieten.

Digitaler Zwilling“ preisgekrönt

Anfang Januar belohnte das Wirtschaftsministerium Rheinland Pfalz die Stuttgarter mit einer 500 000 – Euro – Finanzspritze aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE). Hochwillkommen, denn zum einen finanzieren sich die fünf Gründer mit privaten Ersparnissen und Krediten, verzichten aber auf externe Risiko- Investoren. Zum anderen wachsen sie mit ihren inzwischen 80 Mitarbeitern und Büros in Mainz, Stade und München. Umsatz 2019: 6,8 Mio Euro, 2020 steigend, trotz Corona.Die Stuttgarter haben zudem einen Innovationspreis nach dem anderen eingeheimst: „Innovationspreis Baden-Württemberg“, „Gartner Cool Vendors Industry 4.0“…


Warum? Ein Beispiel: Will ein Autokonzern seine Endmontage umstellen, dann dauert dies vier bis fünf Monate, erklärte Mathias Stach dem Manager Magazin, das ASCon- Sytems zu einem der „Entrepreneure des Jahres 2020“ gewählt hat.
Und: Statt mit dieser Monate langen Arbeit nun teuer und aufwändig externe Spezialisten zu beauftragen, lasse sich der Prozess mit der ASCon Systems-Software in Stunden oder gar Minuten erledigen.

Also von den Anwendern selbst, von erfahrenen, hauseigenen Mitarbeitern, die dafür etwa 14 Tage Schulung benötigten.
Mercedes Benz hat dies teilweise schon umgesetzt.
Das spart (externe) Arbeitsplätze, Zeit und damit Kosten.

Im übrigen weiss Mathias Stach aus der Praxis, dass sich auch qualifizierte Mitarbeiter noch immer mit zu vielen unliebsamen Routinen herumschlagen.
Die Maschinen zur Fertigung werden ständig komplexer und immer automatisierter. Die Menschen verstehen sie oft nicht mehr:
Warum fertigt die Anlage wieder fehlerhaft? Oder Ausschuss? Dann müssen Produkte nachgearbeitet werden. Das kostet richtig viel Geld, stresst und sei überflüssig, so Stach. Solche Fehlerquellen könne der „Digitale Zwilling“ im Vorfeld erkennen und anzeigen, also erheblich senken.

Menschenleere Fabriken?

Es fragt sich, ob das alles auch ein Meilenstein auf dem Weg in die autonome Fertigung ist.
Mathias Stach verneint: Vollautomatische Produktion da, wo es sinnvoll ist, ja.

Der Innovationsdruck, der Kostendruck auf hiesige Produzenten, sind gewaltig.Vor allem aus Asien.
Die Fabrik ohne Menschen kann sich Stach dennoch nicht vorstellen. Roboter können nicht alles. Menschen, die Software-unterstützt Fertigungsstrassen umrüsten, die überwachen und entscheiden, die Qualität überprüfen, werde es auch in Zukunft noch brauchen.

Das sieht auch Raphael Menez so. Der promovierte Sozialwissenschaftler hat viel zur Industrialisierung 4.0 geforscht und leitet heute den Bereich Transformation und Innovation bei der IG Metall Baden-Württemberg.
Klares Ziel: Wertschöpfung und Produktion in Deutschland zu halten.

Anliegen der Gewerkschaft ist, bei anstehenden Innovationen alle betrieblichen Akteure von Anfang an mit zu unterstützen. Z.B. mit Prozess- und Fachberatern an Ort und Stelle, mit Qualifizierungskonzepten für die Beschäftigten.
Unsichere Job-Perspektiven haben nach wie vor Un- und Angelernte. Auf erfahrene Facharbeiter dagegen werden Fabriken auch in 20 Jahren nicht verzichten können, so Raphael Menez.
Von der Idee der vollautomatischen, der sog. „Lichtlosen Fabrik“ hat sich übrigens
auch Tesla wieder verabschiedet.

 

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