Risse, Spalten, Brüche

Psychische Belastungen während der Pandemie haben den Ton in gesellschaftlichen Auseinandersetungen vielfach verschärft. Beispiel: Impfbefürworter gegen Impfgegner. Wie stark bröckelt der Kitt des Zusammenhaltes?

Die Pressemeldung vom 10. April hat eine mit klare Botschaft:
Die Bundesschülerkonferenz will eine bundesweite, kostenlose Testpflicht an Schulen dreimal pro Woche.
Als Echo darauf fand Dario Schramm (19), Generalsekretär der Schülerorganisation, seinen privaten Facebook-Account mit Hassbotschaften zugemüllt. Pöbeleien auch über die offizielle Mail-Adresse der Bundesschülerkonferenz, dazu Anrufe:

„Mord! Die haben gesagt, dass ich ihre Kinder alle umbringen möchte mit den Tests. Dazu Drohungen wie: Wir finden dich! Wir rechnen noch mit Ihnen ab! Jude… Mit Bildern von mir. Es gab auch andere Schülervertreter, die davon betroffen sind, auch jüngere, die nicht so in der Öffentlichkeit stehen, und für die ist das natürlich heftig, weil sie nicht so gut damit umgehen können.“

Woher kamen die Anfeindungen? Von Querdenkern?

„Ich kann das nicht sagen. Der typische ‚besorgte Bürger‘, der sich in seinen Freiheitsrechten eingeschränkt fühlt?“

Sagt Dario Schramm. Und: Die Pöbler waren nur Erwachsene.

„Es hat sich kein einziger Schüler bei uns gemeldet, der gegen die Testpflicht wäre, es waren 100% Eltern!

Wie geht er mit solchen Anfeindungen um?

„Mir geht das nicht nahe. Das ist tatsächlich nichts Neues. Wir haben dasselbe schon erlebt, als wir gesagt haben, dass wir die Schulen wieder aufmachen wollen. Das ist, so hart sich das anhört, täglich Brot!“

Ist er so angstfrei im Wissen, dass die Drohungen im Netz von Eltern kamen, die ihm wohl nichts antun werden?

„Wer so was im Internet sagt, den kann ich nicht ernst nehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass eine ernste Gefahr droht. Ich ziehe die Konsequenz, dass die Bildung dafür sorgt, dass Kinder lernen sich frei in ihrer Meinung zu äussern und dass im schlimmsten Fall nicht komische Meinungen ihrer Eltern übertragen werden.“

Kinder erziehen ihre Eltern?
Jedenfalls will die Bundesschülerkonferenz die Hassattacken aufarbeiten und auch prüfen, ob darunter juristisch angreifbare Äusserungen sind, die strafrechtlich zu verfolgen sind.

So vorzugehen, raten auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie www.hassmelden.de und www.hateaid.org, die professionelle Beratung und Hilfe anbieten.
Hass und Hetze zu ignorieren oder tapfer im Netz dagegen zu posten reicht längst nicht immer.

Dass Erwachsene, Eltern zumal, Jugendliche netzöffentlich verunglimpfen und bedrohen, ist schon erschreckend genug.

„Nur“ verbale Entgleisung?

Die „Netikette“ aus den Urzeiten des Internets?
Weitgehend vergessen.
„Du hast zu viele Menschen diffamiert und wirst dafür getötet.“ Botschaft an die Sozialpsychologin Pia Lamberty.
Als „Schlampe“ sei sie im Netz beschimpft worden, die man „fesseln, knebeln und den Wildschweinen überlassen sollte“, so erzählt es „Waidfräulein“, eine junge Jägerin, dem SPIEGEL. Sie hatte sich mit einem erlegten Fuchs auf Instagram gepostet.
Sintflutartig ergiessen sich über Urheberinnen exponierter Positionen im Netz Falschmeldungen, Verleumdungen, Unflat, Beleidigungen, Bedrohungen bis hin zu Vergewaltigung bei Frauen, oder gar Mord. Gegen Wissenchaftler, Politiker jeder Couleur, nicht nur zum Thema Corona. Frauen bevorzugt. Die östrreichische Poltikwissenachaftlerin Natascha Strobl und der Journalist Richard Gutjahr mussten erleben, dass sogar ihre Kinder im Netz mit Mord bedroht wurden.

Die Hetze kann mundtot machen, Angst vor Diffamierungen und tätlichen Übergriffen den demokratische Diskurs, die Essenz unseres Systems, empfindlich stören.

Das Bundeskriminalamt (BKA) hat 2607 Hassbotschaften im Jahr 2020 erfasst.
1617 davon sind dem rechtsextremen Spektrum zuzurechnen, 201 gehen auf das Konto von Linksextremen, 789 Posts haben diverse ideologische oder unklare Hintergründe. Die Dunkelziffer dürfte beträchtlich sein.

Hundertfache, ja tausendfache „Likes“ zeigen, wie gefährlich weitreichend die Stimmung gesellschaftlich aufgeheizt ist, Gewaltandrohungen offenbar gebilligt werden.
Zunehmend auch unter Klarnamen.

„Unsere Gesellschaft ist menschlicher geworden, Spaltung und Polarisierung konnten verringert, vielleicht sogar überwunden werden, und Zusammenhalt ist neu gewachsen“,

so Bundeskanzlerin Angela Merke in ihrer Regierungserklärung von 2018.

Es wird, so scheint es, eher künftigen Regierungen überlassen bleiben, an diesem Ziel zu arbeiten.

Selbstverständlich sind Gesellschaften nie homogen.
Aber: wie nie zuvor kann sich dank Internet Jeder und Jede positionieren, weltweit – eine Art medialer Totaldemokratisierung.
Scharfe Kontroversen und Provokationen, Elaborate von Satirikern, Spinnern, Hassern und Verschwörungstheoretikern – Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut und sehr weit gefasst. Persönliche Angriffe allerdings können eine Gratwanderung zu zivil- und strafrechtlichen Verfahren sein.

Die neue Plattform www.stark-im-amt.de soll hunderten mit Morddrohungen überzogenen Abgeordneten, Bürgermeistern, Stadt- und Gemeideräten Rat und Hilfe bieten.

Verrohung der Sprache? In Minderheitsgruppen oder zunehmend verbreitet? In welchen Milieus? Verbale Entgleisungen im Affekt? Sicher auch, wie manche Urheber solcher Posts behaupten. Es fehlt an Forschung dazu.

Für die Parteivorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, sind Hassangriffe im Netz, insbesondere auf Politiker, Indizien eines gesellschaftlichen Problems. Es drücke sich darin aus, dass es für die Absender solcher Hassbotschaften kein Vertrauen mehr in demokratische Prozesse gibt oder dass demokratische Prozesse überhaupt anerkannt werden.

Das Netz ist nur ein Spiegel der Gesellschaft oder eigentlich eine Erweiterung des gesellschftlichen Raumes,“ so Johannes Baldauf, der die Szene für Facebook im Blick behält, um neue Verhaltens-Standards für Nutzer zu etablieren.

Spaltung im Medien-Fokus

Was also spiegelt das Netz:
Dass unsere Gesellschaft zunehmend polarisiert, gespalten ist – mit unversöhnlichen Positionen um Flüchtlings- und Klimapolitik? Und nun womöglich verstärkt durch die Corona-Epidemie? Für Florian Beckmann, Soziologe an der Uni Bochum, ist das kein eindeutiger Befund.

Er kritisiert, dass die Medien bevorzugt gesellschaftlich Trennendes fokussierten, zu einseitig den Blick auf Gruppen wie Pegida und Corona-Leugner, und hier vor allem auf Rechtspopulismus lenkten. Bei Demos etwa:

„Da heisst es dann, da marschiert die Mitte der Gesellschaft, das stimmt zum Teil, aber der Umkehrschluss ist nicht richtig, dass da jetzt ein Riss durch die Mitte Gesellschaft geht, und das auch Spaltungspotenzial bietet. Es bleibt eine quantitativ relativ kleine Gruppe.“

Zusammen mit seiner Kollegin Anna-Lena Schönauer hat er letztes Jahr in einer Studie 1099 Personen zu ihren generellen Einstellungen befragt:
Wie bewerten sie das politische Engagement zum Klimaschutz? Gegen soziale Ungerechtigkeit? Zur Bekämpfung der Corona-Epidemie? Und: Soll die Zuwanderung reduziert werden?

Ergebins: Weitgehend gesellschaftlicher Konsens bei den ersten drei Fragen. Und zwar deutlich bei Menschen, die sich politisch weder links noch rechts, sondern „in der Mitte“ verorten. Als Spalter erwies sich lediglich das Thema Zuwanderung – auch bei ihnen.
Insgesamt über alle Gruppen hinweg wollen 43 % der Befragten Migration beschränkt sehen, ein Viertel dagegen nicht, die Übrigen waren unentschieden. Ein gesellschaftlicher Grundkonsens, so Beckmann und Schönauer, schliesst aber selbstverständlich Kontroversen nicht aus, wie diese Ziele umzusetzen sind.

Noch genauer haben Wissenschaftler von More in Common hingeschaut, einer internationalen, gemeinnützigen Nichregierungsorganisation (NGO).

Wie polarisiert ist Deutschland wirklich? In ihrer Studie „Die andere deutsche Teilung“ von 2019 machen sie sechs verschiedene gesellschaftliche Grund-Typen innerhalb der Bevölkerung aus: Die Offenen, die Involvierten, die Etablierten, die Pragmatischen, die Enttäuschten und die Wütenden.
Mit ihren jeweils unterschiedlichen Werten, Überzeugungen und Perspektiven auf unsere Gesellschaft.

Keiner der sechs Typen ist in der Mehrheit, so dass Zusammenhalt nur entsteht, wenn sie zusammenarbeiten“, schreibt Mit-Autorin Laura-Kristine Krause in einem Gastbeitrag für die ZEIT.

Im Juli 2020 hat More in Common noch einmal nachgefasst: Hat uns die Corona-Krise näher zusammen gebracht oder „zerreisst sie gerade das Land“?

Ergebnis damals:

– Eine grosse Mehrheit der Menschen hält sich an die Corona-Regeln und trägt so zur Bekämpfung der Epidemie bei. Das ist auch heute noch so.
– Die Zustimmung zur Corona-Politik hat inzwischen erheblich nachgelassen, sie ist aber immer noch mehrheitlich akzeptiert.

Schwindende Toleranz

So weit, so beruhigend.
Bedenklich dagegen ist, dass es überwiegend gesellschaftlich gut eingebundene Menschen mit Grundvertrauen in ihre Mitmenschen und die Institutionen als Stabilisatoren sind, die Solidarität und Zusammenhalt bei uns wahrnehmen.
Es sind dies, so die Studie, die Involvierten und Etablierten.
Andere Bevölkerungsgruppen erleben fehlenden Zusammenhalt, sehen sich in der Krise nicht unterstützt.
Die Wütenden und Enttäuschten sind in dieser Hinsicht gespalten und in der Minderheit.
Die Wütenden zeigen sich im übrigen noch misstrauischer gegen Politik und Medien, noch unzufriedener mit der Demokratie als vor der Corona-Pandemie.

Aber nicht nur die Vielfalt an Hetzbotschaften im Netz und bei der gesellschaftlichen Zusammensetzung von Anti-Corona-Demonstrationen spiegelt, dass diese Haltung keineswegs mehr auf die Wütenden beschränkt ist.

Kompromisse mit Andersdenken einzugehen, dazu sind nur noch 45 % über fast alle gesellschaftlichen Typen bereit, verglichen mit der Studie von 2019.
Da war dies noch eine deutliche Mehrheit.

Das unsichtbare Drittel“

Und das wohl wichtigste Studien-Ergebnis: Ein Drittel der Gesellschaft fühlt sich politisch schlecht eingebunden, ist oft einsam und gesellschaftlich desorientiert.
Auf diese Weise „fliegen sie unter dem Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit“, stellt das Autoren-Team fest. Es sind viele Jüngere und Menschen mit Migrationshintergrund.

Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht – neben einer hauchdünnen Oberschicht – grob skizziert eine auseinander driftende Dreiklassengesellschaft mit einer neuen, akademisch geprägten, kosmopolischen Mittelschicht, einer traditionellen Mittelklasse, eher konservativ und im ländlichen Raum angesiedelt und darunter einer breiten Schicht prekär Beschäftigter, vor allem in schlecht bezahlten Dienstleistungsberufen, mit geringen Aufstiegschancen.

Was also muss sich ändern?
Es mag überraschen, dass die grösste Gruppe der von More in Common Befragten über alle Typen hinweg mehr politischen Einsatz für die Ökologie fordert.
Platz zwei: Deutschland muss gerechter, familienfreundlicher und sicherer werden.

Jetzt deutet sich an, dass wieder ein Regulierungsparadigma attraktiver erscheint, weil wir sehen, dass bestimmte Probleme einer neuen Regulierung bedürfen, z.B. Schwäche der öffentlichen Infrastruktur, verstärkte soziale Ungleichheit, verstärkte soziale Desintegration, Erosion ziviler Normen im Internet, also kulturelle Desintegration…“

so Prof. Reckwitz auf einer Zoom-Konferenz 2020.

Der Soziologe von der Berliner Humboldt-Universität setzt auf einen „einbettenden Liberalismus“ , wie er es nennt. Positioniert von Mitte links bis Mitte rechts, eingeschlossen z.B. auch weiterhin die Dynamik der Globalisierung und der vielfältigen kulturellen Prozesse.
Ein „aktiver Staat“, der nicht Wohlfahrtsstaat ist, aber Grundversorgung wie Wohnen, Bildung, Gesundheitswesen, sozialen Aufstieg wirksamer fördert als bisher, stärker steuert, vorausschauend Risikopolitik betreibt und Krisenmanagement beherrscht.

So weit die Theorie. Gelingt es, sie praktisch so umzusetzen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt wächst, dann würde sich auch die Vorstellung der scheidenden Bundeskanzlerin erfüllen.

 

 

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