Der Solartechnikboom gehört zu den wirkungsvollsten Treibern der Energiewende. Noch weitgehend unbekannt und ungenutzt ist das Potenzial senkrechter Flächen an Gebäuden, um Sonnenenergie einzufangen: vertikale Photovoltaik.
Über die Schönheit von Nachkriegsarchitektur aus den fünfziger- und sechziger Jahren kann man geteilter Meinung sein – unstrittig ist, dass Wärmedämmung und Energieeffizienz damals so gut wie keine Rolle spielten.
Im zerbombten Nachkriegsdeutschland mussten schnell und möglichst billig massenhaft neue Wohnungen und wichtige Funktionsgebäude aus dem Boden gestampft werden.
Beispiel: Das „Mitarbeiterhaus“ der Universität Erfurt, ehemals Wohnheim des Pädagogischen Institutes. Das denkmalgeschützte Gebäude von 1965 bedurfte dringend einer Generalüberholung. 2009-2011 komplett energetisch saniert, erzeugt es mit seiner fassadenintegrieten Photovoltaik an der Südseite rund 20 000 kWh Strom pro Jahr. Ein schöner Beitrag zur Energieeffizienz, schon damals.
Jahre später: In Mönchengladbach waren die Ziele 2017 ehrgeiziger.
Mit dem „Blauhaus“ gelang den Architekten ein Nullemmissionsgebäude im sog. „Passivhausstandard“. Heisst: genutzt wird alles was nur möglich ist aus „passiven“ Energiequellen, und dazu gehören auch die 77 bläulich glänzenden Glas- und Photovoltaik-Paneele an der Fassade. Ausserdem 230 Module auf dem Dach, genug für den gesamten Strombedarf des Hauses. CO2-Einsparung: 110 Tonnen pro Jahr.
Interessierte Hausbesitzer fragen sich derzeit besorgt, wie lohnend es künftig sei, in Solartechnik zu investieren: Für überschüssigen Strom, den sie ins öffentliche Netz abgeben, sinken die Preise kontinuierlich. Also weiter teuer Strom einkaufen? Oder lieber komplett selbst erzeugen und nutzen? Der Koalitionsvertrag der neuen Regierung weckt Hoffnungen. Immerhin installieren private Hausbesitzer seit 2019 wieder mehr kleine Photovoltaikanlagen bis 30 KWh-Leistung, noch allerdings bevorzugt auf Dächern.
Die Branche boomt nach einem Jahre langen Niedergang.
Bei Fassadenmodulen dagegen sei die Marktentwicklung bisher noch nicht so richtig in Schwung gekommen, sagt Thorsten Kühn von der Beratungsstelle für bauwerksintegrierte Photovoltaik (BAIP) am Berliner Helmholtz-Zentrum.
Dabei gab es immer wieder Pionier-Projekte wie etwa den Speicher7 am Hafen Mannheim, erbaut 1957. Die Solarmodule, seit 2013 an der Südseite montiert, sind immerhin gut für 50 000 KWh Strom pro Jahr.
Oder das Bremer Wohnhochhaus Eislebenerstrasse 75. Auch dieser Bau von 1972 war energetisch ein Methusalem. Und die Eigner, die Bremer Aktiengesellschaft GEWOBA punkten nicht nur mit ihrer Solarfassade, sondern integrierten an der Nordseite zudem einen „hängenden Garten“, vertikales Grün.
Alles in allem auf neun Stockwerken ein „kleines Kraftwerk“, Solarmodule auf dem Dach inklusive. Ergebnis: Weniger Energie pro Haushalt, das schont die Portemonnaies, weniger Emissionen. Der Primärenergiebedarf sank auf 55%.
Woran also hakt’s, wenn Fassaden als Energiequellen bisher brach liegen?
Zumal gerade Hochhäuser Platz für Solarmodule satt böten?
Eine Sanierung wie die in Bremen ist teurer als herkömmliche Modernisierungen, baurechtliche Genehmigungen sind komplizierter als üblich, und Preistreiber bei Gebäuden über 22 Metern Höhe sind nicht zuletzt die strengen Brandschutzauflagen, sagt Frank Wendt, Leiter des technischne Gebäudemagaments der GEWOBA. Das schreckt grosse Wohnbaugesellschaften ab.
In der Schweiz, Lässigkeit in Sicherheitsstandards eher unverdächtig, sind Solarfassaden an hohen Gebäuden dagegen leichter umzusetzen. So werden beispielsweise Brandsicherheitsklassifizierungen von Photovoltaik-Modulen zum Teil anders bewertet. Das ist möglich, weil in der Schweiz keine EU-Anforderungen einzuhalten sind, so Thorsten Kühn.
Der Architekt beim BAIP in Berlin hat selbst lange Jahre in der Schweiz gearbeitet.
In unserem wohlhabenden Nachbarland sind auch bei öffentlichen Bauvorhaben nicht zwingend die Kosten der bestimmende Vergabefaktor. Staatliche Förderung und Einspeisevergütungen für Investoren, die Privatstrom ins öffentliche Netz abgeben, seien dort zudem günstiger als bei uns, wie auch die baulichen Rahmenbedingungen insgesamt. Bürokratische Hürden sind geringer und Kontrollen „zum Teil nicht mit mehrfachen Sicherheiten belegt“.
In Deutschland stehen für bauintegrierte Photovoltaik (BIPV) immerhin 200 530 km² Flächen an Nicht-Wohngebäuden und 350 700 km² an Wohnhäusern zur Verfügung.
Die zahllosen vertikalen Gebäudeflächen darunter sind aber noch so gut wie völlig unerschlossen, z.B. im Bestand der grossen Wohnbaugesellschaften.
Vor allem aus Kostengründen.
Beispiel: Ein Plusenergiehaus in Bottrop, Bj. 1960, saniert nicht nur mit Dach- , sondern auch mit Fassaden-Modulen. Es blieb ein Pilotprojekt. Die Investitionskosten sind hoch, der Ertrag geringer als bei Solardächern, so die Wohnungsbaugesellschaft Vivawest Wohnen GmbH in Gelsenkirchen.
Branchen-Lobbyisten sähen es aber gern, wenn Bau- und Sanierungswillige dennoch ihre Blicke in die Zukunft, und damit zunehmend auch über die Standardlösung „Solardach“ hinaus schweifen liessen:
Photovoltaik-Module taugten als Gebäudehüllen, könnten vor Wind, Wetter und Lärm schützen – statt herkömmlicher Wände oder als Ergänzung dazu.
Als vorgehängte, hinterlüftete Fassaden wie in Bremen oder im Wärmedämm-Verbundsystem etwa.
Mit halbtransparenten Solarmodulen liessen sich Tageslicht oder Sonnenschutz steuern, Fassaden farbig gestalten, bedrucken…
Allerdings ist das teurer, die Energieausbeute geringer, aber immerhin fangen vertikale Elemente das Licht auch bei tief stehender Sonne ein und wenn es schneit, so die Fachleute.
Preiswerte Photovoltaik als Massenware liefern asiatische Firmen.
Europäische Solarmodulproduzenten sind erfolgreich am Markt mit Neuentwicklungen und Spezialitäten, gern nach Kundenwünschen, eine Stärke auch kleiner und mittelständischer Betriebe.
Allerdings könnte sich die bauwerksintegrierte Photovoltaik für Dächer und Wände zu einem weltweiten Massenmarkt entwickeln, schätzen Fachleute beim Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg.
Vor allem, wenn es gelingt, zunehmend mehr Abläufe zu automatisieren und damit preiswerter zu produzieren.
Rahmenlos elegant: Glas-Glas-Module, also ohne Aluminium und made in Europe, haben zudem den besten CO2-Fussabdruck.
Der nächste Schritt wären möglichst komplett wieder verwertbare Bestandteile ausrangierter Paneele und entsprechende gesetzliche Vorgaben.
Interessenten müssen z.Zt. mit Lieferschwierigkeiten rechnen.
Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband Solarwirtschft e.V. (BSW) rechnet aber fest damit, dass im nächsten Jahr Fertigung und Logistik wieder reibungslos laufen.
Der „Flaschenhals“ sind auch in der Solarwirtschaft die vielen noch unbesetzten Jobs.
„Wir sind zuversichtlich, dass die Verschärfung der Klimaziele, der sich abzeichnende Paradigmenwechsel hin zu einem konsequenten Umbau der Energieversorgung und die Renaissance des PV-Produktionsstandortes noch mehr Menschen für die Arbeit in unserer attraktiven Branche begeistern werden.“
Sagt Körnig und setzt auf „unmissverständliche Signale und Weichenstellungen seitens der Bundesregierung“, diesen Trend zu stützen.
Rund 1000 Gigawatt (Gwp) in der Spitze könnte die bauintegrierte Photovoltaik (BIPV) an regenerartiver Energie beisteuern, so das Fraunhofer Institut für solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg.
Zum Vergleich: Deutschlands sechs Atomkraftwerke liefern rund 8,5 Megawatt (MWe) pro Jahr, ein Beitrag von 11,3% zur Stromerzeugung.
„Sonnenwände“: Deutschland hat ein gigantisches Potenzial für Nullenergie, für Plusenergie, auch an vertikalen Flächen, vor allem an grossen Gebäuden.