„China, mein Vater und ich“

Es ist ein Glücksfall, wenn ein Autor mit chinesischen Wurzeln wie Felix Lee die jüngere Geschichte seines Landes „neu erzählt“ (KLappentext), wohl wahr: prägnant und kritisch. Genau so viel, wie man wissen muss, um das China von heute besser zu verstehen. Er beschreibt, wie geschichtliche Ereignisse auf seine Familie durchschlagen und beflügelt so unsere Vorstellungskraft. Aufs Engste verknüpft mit der Entwicklng Chinas ist der beispiellose Aufstieg von Volkswagen dort zum Marktführer, massgeblich mit eingefädelt und voran getrieben von Vater Wempo Lee.

1984 rollt der erste VW in Shanghai vom Band, ein Santana.
Und nun, fast 40 Jahre später und wieder aus Shanghai: ein Paukenschlag von der Automesse dort Mitte April. Erstmals hat sich Volkswagen, der Mobilitätspionier Chinas schlechthin, erfolgsverwöhnt seit Jahrzehnten, die Marktführerschaft vom chinesischen Autobauer BYD abjagen lassen. Jedes dritte Auto in China läuft elektrisch. BYD führt, und VW ist „elektrisch“ nur marginal vertreten…
Und als wär‘ s geplant, zeitgleich dazu die passende Buchneuerscheinung.

Echter Wolfsburger

Autor Felix Lee Jahrgang 1975, ist ein Wolfsburger Kind. Vater Wempo, promovierter Ingenieur, arbeitet damals bei VW als Leiter der Forschungsabteilung für Motoren. Lange Zeit waren die Lees die einzigen Chinesen in der Autostadt, sieht man einmal von der Familie des ersten China-Restaurants dort ab. Und sie wurden durchaus als Exoten wahrgenommen: „Guckt mal, ein Schlitzauge“. Die Lees versuchen, solche Beleidigungen nicht an sich heran kommen zu lassen.

Die junge Familie integriert sich nach Kräften. Sie nehmen die deutsche Staatsbürgerschaft an, lassen die beiden Söhne katholisch taufen. Belgische Missionare in Taiwan hatten seinerzeit die Mutter mit 17 für eine Krankenschwester-Ausbildung in Deutschland angeworben. Und dem Vater war klar, dass die Kirche in einem fremden Land gute Kontaktmöglichkeiten bot.

Nie wieder China

Das war wohl die Triebfeder für Lee Senior und seine Frau, sich an die Verhältnisse anzupassen. Beide waren schon als Kinder mit Familienangehörigen Ende der Vierziger Jahre aus dem Bürgerkriegs-China nach Taiwan geflohen.
Seinen zwei Söhnen machte Wempo Lee klar:
„Jungs, wie sehr ihr euch auch als Deutsche fühlt – für die Deutschen werdet ihr immer Ausländer sein.“ Aber auch in China: immer Fremde, „von unserer Art her, unserer Denkweise…“
Und wo auch immer, „wir müssen uns mehr anstrengen als die anderen, immer ein bisschen besser sein.“

Autor Felix Lee stellt die Flucht des Vaters aus Nanjing, den abenteuerlichen und entbehrungsreichen Weg bis ins Deutschland 1962 an den Anfang seines Buches.
Es ist die Geschichte eines wissbegierigen Jungen, der schon als Kind in einer Fahrradwerkstatt für seine Lebensunterhalt arbeiten muss, der es mit viel Glück und Fleiss in Taiwan auf eine Schule, eine Universität und schliesslich zu einem Studium an der TH Aachen bringt.

Fünf Chinesen am Werkstor

Und vielleicht wäre er für immer zufriedener Motoren-Forscher bei Volkswagen in Wolfsburg geblieben, hätten nicht eines Tages 1978 fünf Chinesen ohne Begleiter, ohne Dolmetscher, des Deutschen unkundig, spontan an den Werkstoren um Einlass gebeten, um sich anzuschauen wie man Nutzfahrzeuge baut. Ausgerechnet im Stammwerk des PKW-Baus, das damit gar nicht aufwarten konnte… Wempo Lee rettet die Situation.

Mit dieser Begebenheit beginnt die Ära von Volkswagen als Mobilitäts-Pionier des bis dahin international nahezu völlig isolierten, unvorstellbar armen und rückständigen Chinas.

Bei Oma und Opa in Nanjing 1979

Knapp und einprägsam die Rückblenden in die Historie Chinas beginnend mit dem Kaiserreich Mitte des 19. Jh., als das Riesenland eine wohlhabende Weltmacht war…

Die Grosseltern, geboren um die Jahrhundertwende, kannten kaum etwas anderes als Krieg, Unruhe und Angst um ihre wenige Habe. Am schlimmsten wohl nach dem Einmarsch der Japaner und dem Massaker an der Bevölkerung in Nanjing, wo Vater Wempo Lee 1936 geboren wurde.
„Als mein Vater ein Kind war, gehörte China zu den ärmsten Ländern der Welt.“

Unter Mao Zedong total enteignet, leben die Eltern seines Vaters 1979 noch in ihrem Haus. Beim Besuch der Familie aus Wolfsburg sitzen alle im eisigen Winter ohne Heizung, dick eingepackt in Steppdecken über ihrer Winterkleidung auf dem Bett der Gastgeber. Ein Klo gibt es nicht. Mit Grausen erinnert sich der Autor an das externe, bestialisch stinkende Gemeinschafts-Toilettenhaus.

Stufenheck muss sein

Ein Volk auf Fahrrädern: Es gibt kaum Taxis, keinen öffentlichen Nah- und Regionalverkehr, wenige Züge. Motorisiert ist nur das Militär.

Schnell begreift Wempo Lee, dass China nicht mit Kleinwagen für alle gedient ist wie einst Deutschland mit dem Käfer. Der Santana aus Shanghai muss es sein für den Anfang, als Taxi, für Politgrössen und für den Export, damit Geld ins Land kommt.

1985: VW Santana in Shanghai

Im chinesischen Verständnis muss ein Auto was her machen.
Limousinen bevorzugt also: Dem Erstling Santana folgt ein Audi 100, dann der Jetta. Erst viele Jahre später fassen andere Automarken Fuss im Land – allerdings ohne eigene Fabriken.

Volkswagen in China: Hunderttausende Autofahrer mehr, die Atmosphäre und Boden mit Abgasen verschmutzen würden – unter deutschen Umweltschützern sorgte das in den Siebzigern für kritische Diskussionen – im Bewusstsein der eigenen Doppelmoral als Wohlstandsbürger einer Autobauer-Nation.

Pioniergeist

Zusammen mit Wempo Lee ist der Autor die Vita seines Vaters, sein Engagement für den China-Pionier VW noch einmal durchgegangen.
Und es gelingt Felix Lee, diese „lebendige“ Erzählung von Lee Senior zu transportieren.
Wempo Lee, ein Ingenieur, der von jetzt auf gleich Unternehmergeist entwickeln muss. So erfolgreich, dass er nach einigen Jahren erst das VW-Hauptquartier in Peking leitet und schliesslich Volkswagens Generalbevollmächtigter in China wird.

Keine Strassen, keine ausgebildeten Arbeitskräfte, kurz: kaum Infrastruktur, die es erlaubt, mal eben ein Automobilwerk aus dem Boden zu stampfen. Ernsthafte Hindernisse, Nickeligkeiten oder Empfindsamkeiten auf beiden Seiten, an denen grosse Pläne in letzter Minute zu scheitern drohen – herausfordernd für Wempo Lee, der mit unendlicher Geduld und Zähigkeit ständig zwischen zwei Kulturen vermitteln muss. Der beharrlich chinesische Poltigrössen wie auch eigene Vorgesetzte überzeugen muss, was er jeweils für VWs Erfolge wie auch für seinen Traum von einem modernen, wohlhabenden China geboten hält.

Felix Lee mit Vater Wempo Lee 2022

Geld verdienen als Staatsdoktrin

In den Achtzigern zieht Familie Lee für einige Jahre nach Peking. Damals als Schulkind, später als Korrespondent der taz und anderer deutscher Medien, dann wieder bei vielen Besuchen – im Buch lässt der Autor Erlebnisse, Anekdoten sehr unterhaltsam wieder aufleben.
Er wird Zeuge einer in der Menschheitsgeschichte nie da gewesenen Rasanz an Veränderungen und wirtschaftlichem Wohlstands-Wachstum.

Der entfesselte Gigant: haupsächlich angestossen von Deng Xiaoping.
Der Autor blendet zurück in die Horror-Jahren von Maos Kultur-Revolution, der Hungersnot, und wie Deng in der Folge vorsichtig sein Land dem Kapitalismus öffnet. Probeweise in „Sonderwirtschaftszonen“, um ausländische Investoren anzulocken. Mit überwältigendem Erfolg.
Das Land erlaubt schliesslich Privatbesitz, lebt den „sozialistischen Kapitalismus“, China tritt der WHO bei. Geld verdienen wird Staatsdoktrin, um China endgültig aus Elend und Rückständigkeit zu befreien.

Dann der Rückschlag, Schock: Das Massaker vom Tian’anmen-Platz 1989. Erschütterung, lähmendes Entsetzen auch bei Familie Lee.
In den VW-Fabriken aber bleibt alles ruhig. Boykott-Aufrufe werden laut. Die junge Demokratiebewegung ist abgewürgt, kritische, freizügige Diskussionen sind Vergangenheit.
Weiter machen in China? Und wenn ja: wie? Die Passagen darüber zählen zu den spannendsten im Buch…
Was wie eine Schutzbehauptung aus Wolfburg klingt ist Fakt: Chinas Führung hätte auch ohne VW überlebt.

China blieb eine Diktatur mit Menschenrechtsverletzungen, mit Verbrechen wie an den Uiguren. Was alles auch immer wieder zu kontroversen Diskussionen des Autors mit seinem Vater führt.

Die weltweite Aufregung über die Ereignisse am Tian’anmen-Platz legte sich wieder. Ob westliche Top-Manager oder Staatenlenker wie Barack Obama und Angela Merkel: Man registrierte, dass das Land zumindest an seiner wirtschaftlichen Liberalisierung fest hielt.
Nolens – volens: wirtschaftlich abhängig vom Westen, musste China so handeln, so erklärt es der Autor. In den westlichen Industrienationen war man überzeugt, dass dies irgendwann zwangsläufig zu auch demokratischen politischen Verhältnissen führen müsste
Die Hoffnungsformel: Wandel durch Handel.

Wichtig also, wenn Felix Lee noch einmal die Hintergründe beleuchtet, wie unter Dengs Nachfolger Xi Jiping die Knute wieder Zug um Zug angezogen wird.

Warum? Weil China es sich leisten kann.
Symbolisch geradezu: Einst war China abhängig von VW.
Heute ist es umgekehrt.
Frage des Sohnes an den Vater: Hat denn niemand vor der Abhängigkeit des Konzerns von China gewarnt? Antwort des Vaters: Doch, aber keiner wollte es hören.
Aufgestiegen zur globalen Wirtschafts-Macht, strebt China nun auch geopolitisch an die Spitze.

Felix Lee
China, mein Vater und ich
Über den Aufstieg einer Supermacht
und was Familie Lee aus Wolfsburg damit zu tun hat

Berlin 2023
Ch. Links Verlang
256 Seiten

€ 22,-

 

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